Was bedeutet es, das Gespräch als Kunst zu betrachten? Dabei geht es nicht um den festgelegten Dialog wie im Theater, in der Literatur, im Film oder im Drama, auch nicht um das Gespräch vor Publikum wie im Improvisationstheater, Podiumsdiskussion oder Podcast, sondern um das reale, spontane, offene Gespräch, das sich erst ex post in seinen Formgrenzen erkennt, weder reproduzierbar noch von Außenstehenden verfolgt; Was kann es bedeuten, das freie Gespräch als ein Medium der bildenden Kunst, als Konzeptkunst, als Performance, als eine eigene künstlerische Arbeit zu begreifen?
Wir experimentieren mit Gesprächsformaten – seien es moderierte oder unmoderierte, thematisch festgelegte oder völlig frei geführte Gespräche - denen man sich stunden- manchmal tagelang widmet, mit unterschiedlicher Teilnehmerzahl von zwei bis zwanzig. Gesprächsteilnehmer müssen dafür ausgewählt und erprobt werden. Das heißt als Kollektiv arbeiten, gemeinsam schöpferisch werden, Trägheiten überwinden, stundenlange Fokussierung lernen, unübliche Verdichtung möglich machen, experimentelle Arbeit leisten.
"La conversation pour la conversation": Im Gegensatz zur Kunst der Konversation im 18. Jahrhundert geht es uns heute mit dem "Gespräch als bildende Kunst" um die Forderung nach Befreiung des Gesprächs aus funktionalen Bindungen wie Politik, Informationsaustausch oder sozialen Zielen. Es geht darum das Gespräch selbst als künstlerische Arbeit ernst zu nehmen. Wenn das Gespräch seine funktionalen Grenzen überwunden hat, kann sich ein eigenes künstlerisches Werk daraus entwickeln. Dabei sind die Teilnehmer gleichzeitig Künstler und Kunstbetrachter, und das Werk besteht nur solange das Gespräch andauert. Diese Form des Gesprächs muss jedoch gegen Widerstände, Erwartungen und Funktionalisierungen durch explizite Formate, Selektion, Regeln oder Praktiken verteidigt werden. Die Ästhetik des Gesprächs als ein Gemeinschafts- Kunstwerk muss ermöglicht, erlernt und experimentell erarbeitet werden.
Ab dem 20.Jahrhundert umfasst die bildende Kunst nicht mehr nur äußerlich bildend formgebende Objekte unserer Kultur. Schon mit Dada erobert sie sich Text und Sprache, mit Duchamps Rezeptionsräume. Es kommen zeitbasierte Medien (Film, digitale Kunst, KI Kunst, etc.) hinzu. Die Konzeptkunst transferiert und intellektualisiert die Kunstgrenzen. Abstraktion, Performance, intellektuelle Spannungsbögen. Man denke an John Cages Musikstück "4'33", in dem kein Ton gespielt wird, an Joseph Beuys, der mit dem Begriff "soziale Plastik" auch die Interaktionen von Gruppen und Kollektiven, Politischem und Außerpolitischem, ja die Kulturpraxis schlechthin in den Raum des formend schöpferischen Kunstwollens versetzt hat oder an Banksys "Love is in the bin" das erst durch seine Selbstzerstörung zum Kunstwerk wurde, an die Performance "The artist is present" von Marina Abramovic, bis hin zu Tino Sehgals "konstruierten Situationen". Es gibt also längst Formen der bildenden Kunst, die nicht von einem Einzelnen erschaffen werden, die keinen Objektcharakter haben, die nur im Moment ihrer Aufführung existieren.
Wenn wir das Gespräch als Kunst betrachten, müssen wir Kriterien festlegen nach denen wir es einordnen können. Was bedeutet in diesem Sinne 'die Ästhetik des Gesprächs'? Was bedeuten zum Beispiel Authentizität, Expressivität, Alterität, Interpretationsdichte, kultureller Kontext und Exemplifikation in einem Gespräch? Heidegger spricht von den Störmomenten, die die Kunst ausmachen. Es stellt sich die Frage nach der Autorenschaft, wer oder was gestaltet, formt oder prägt ein Gespräch? Wieviel lässt sich aus den Motivationen der Teilnehmer erklären, wieviel aus eigenständigen Dynamiken und wo beginnt die Autonomie des Gesprächs, ab wann kann das Gespräch als Subjekt erfahren werden?